Auf der Spur der Luchse in den Schweizer Alpen
Posted on October, 24 2006
Von Mark Schulman*
Komm, miez, miez ...
Wenn Sie die Suche nach Ihrer Katze in entlegenen Winkeln Ihres Hauses für eine Herausforderung halten, sollten Sie einmal versuchen, ihre scheuen Verwandten im Wald zu finden.
Bei nur 100 Tieren in den gesamten Schweizer Alpen ist es nicht leicht, Luchse aufzuspüren. Und so wurden die Teilnehmer einer kürzlich durchgeführten Luchsexkursion im idyllischen Simmental im Berner Oberland von vornherein gewarnt, dass die Chancen, das pinselohrige Katzentier in seinem natürlichen Lebensraum zu beobachten, verschwindend gering seien. Es könne nicht einmal garantiert werden, dass man auch nur auf die leiseste Spur seiner Existenz, wie Pfotenabdrücke oder Kot, stossen werde.
Warum organisiert man überhaupt eine Exkursion mit so geringen Erfolgsaussichten?
«Bei der Exkursion ging es nie wirklich darum, einen Luchs zu sehen», erklärt Joanna Schönenberger, Expertin für Grossraubtiere beim Alpenprogramm des WWF Schweiz, die eine Gruppe von Naturfreunden aus Bern durch das Luchsgebiet führt.
«Es geht darum, den Leuten und insbesondere den Städtern die Tierwelt näher zu bringen, die direkt vor ihrer eigenen Haustür in den Alpen zu finden ist, und vor allem darum, die wachsenden Konflikte zwischen der Tierwelt und der Bevölkerung und den Bauern vor Ort zu verstehen.»
Vernetzung der Luchspopulationen
Der Luchs wurde wie auch der Braunbär und der Wolf Ende des 19. Jahrhunderts in den Schweizer Alpen ausgerottet. Durch das Bevölkerungswachstum und die Umnutzung von Wäldern für die Land- und Forstwirtschaft wurden seine Lebensräume zerstört und seine Hauptbeutetiere, die Rehe, dezimiert. Auch die Verfolgung durch Bauern, die den Luchs als Gefahr für ihre Herden auf den hochgelegenen Alpweiden ansahen, hat zu seinem Verschwinden beigetragen. Der letzte Luchs der Schweizer Alpen wurde 1894 unweit des Gebiets unserer Exkursion erlegt.
Ein Jahrhundert später hat sich die Lage gewandelt. Mit dem Ende der grossflächigen Abholzung dehnte sich der Wald wieder aus und die Rehbestände erholten sich vollständig. Damit waren die ökologischen Bedingungen dafür geschaffen, dass der Luchs mit ein wenig Unterstützung zurückkehren konnte. Laut der IUCN/SSC Cat Specialist Group wurden in den 70er-Jahren mindestens 14 Luchse aus den osteuropäischen Karpaten in die Schweizer Alpen umgesiedelt. Damit war die Schweiz eines der ersten Länder in Europa, das die Wiederansiedlung dieser Tierart unterstützte und sie unter Schutz stellte. Heute leben in der Schweiz rund 100 Luchse in zwei Hauptpopulationen: in den Nordwestalpen, einschliesslich der Region um Interlaken, und im Jura vom Genfersee bis nach Frankreich.
«Diese zwei Populationen reichen nicht aus», betont Schönenberger. «Sie sind zu klein und zu isoliert, um überlebensfähig zu sein, und der mangelnde Kontakt zwischen den Populationen kann zu einer Dezimierung des Genpools führen. Wir haben bereits mehrere Luchse mit Hüftproblemen beobachtet, einem genetischen Defekt, der auf Inzucht hindeutet.»
Laut WWF steht die derzeitige Verbreitung der Luchse in den Alpen in keinem Verhältnis zum potenziellen Verbreitungsgebiet: Mit nur 18'100 km2 sind weniger als 10 % des insgesamt 192'000 km2 grossen Alpengebiets permanent besiedelt.
Um die Luchspopulationen zu vernetzen, hat die Schweiz ein vom WWF unterstütztes Projekt ins Leben gerufen, das vom Raubtierforschungszentrum KORA in der Schweiz koordiniert wird. Ziel ist es, die bedrohte Katzenart in der gesamten Alpenregion wieder anzusiedeln und besonders die beiden grössten Alpenpopulationen in der Schweiz und in Slowenien zu vernetzen. Im Rahmen des Projekts wurden 2001 sechs Luchse aus den Schweizer Nordwestalpen in geeignete Gebiete auf der Ostseite umgesiedelt.
«Die Vernetzung ist für die Populationen überlebenswichtig», so Schönenberger. «Sie ist unsere einzige Hoffnung.»
Lynchjustiz für Luchse
Doch nicht alle begrüssen das Projekt oder gar die Rückkehr dieses Raubtiers. In vielen ländlichen Gebieten der Schweiz gelten Luchse, ebenso wie die Hand voll Wölfe und der Bär, die letzten Sommer aus Italien herüberkamen, noch immer als brutale Killer und Bedrohung für die Nutztiere und damit die eigene Existenz – obwohl die meisten getöteten Schafe auf das Konto von Hunden gehen.
Ein älterer Bauer erzählt den Exkursionsteilnehmern, dass er sich um die Sicherheit seiner Schafe sorgt, und macht den Luchs direkt für den Rückgang des Wildes verantwortlich, das früher im nahegelegenen Wald äste.
«Früher habe ich hier unten im Tal viele Gämsen und Rehe auf Futtersuche gesehen, aber seit die Luchse zurück sind, ist es damit vorbei», berichtet er und zeigt auf eines seiner Felder am Hang. «Ich freue mich nicht gerade über die Luchse, aber wir werden uns wohl an sie gewöhnen müssen.»
Doch einige Bauern und Jäger geben den Naturschützern offen die Schuld an der Rückkehr der Luchse. Es ist schon häufig vorgekommen, dass Luchsforscher im Simmental von Einheimischen bedroht wurden oder erleben mussten, dass ihre Ausrüstung beschädigt wurde. Sie sind genauso wenig willkommen wie der Gegenstand ihrer Forschung.
Diese feindselige Einstellung thematisiert der 2004 erschienene Roman Luchs, in dem der Konflikt zwischen Naturschützern und einheimischen Jägern und Schafzüchtern aus dem Blickwinkel eines jungen Mannes aus der Stadt beschrieben wird, der seinen Zivildienst bei den Luchsforschern leistet.
«Der Roman basiert auf meinen Erfahrungen als freiwilliger Helfer zu einer Zeit, in der in eben diesem Tal mehrere Luchse erschossen oder vergiftet aufgefunden wurden», erklärt der Autor Urs Mannhart, der bei der Exkursion aus seinem Buch vorliest.
«Der Konflikt und die Ereignisse im Buch sind nicht weit von der Wahrheit entfernt», so Mannhart, der persönlich bedroht wurde und dem die Reifen zerstochen wurden, als er im Winter 2000 die Luchse beobachtete. «Ich habe das Buch geschrieben, um zu zeigen, wie real der Hass auf dieses Tier tatsächlich war.»
Obwohl der Luchs in der Schweiz und in Europa eine geschützte Art ist, bleibt die illegale Tötung die häufigste Todesursache. Nach offiziellen Zahlen sind seit den 70er-Jahren 49 Luchse Wilderern zum Opfer gefallen. Angesichts gekürzter Mittel für die Beobachtung und damit weniger Feldarbeit durch die Forscher wird es schwieriger, den Luchsbestand zu überwachen.
«Die tatsächliche Zahl der illegalen Tötungen ist nach Schätzungen mindestens viermal so hoch wie die offizielle Zahl, da viele Fälle nicht erfasst oder untersucht werden», erklärt Schönenberger. «In diesem Jahr ist die Zahl der Luchse in mehreren Schlüsselgebieten durch Wilderei zurückgegangen. Bisher wurde noch kein einziger Wilderer verurteilt.»
Leben mit Luchsen
Nicht alle Bauern trachten dem Luchs nach dem Leben. Konrad Egger aus Zweisimmen im Simmental hat in den letzten 13 Jahren 140 Schafe an Luchse verloren. Doch obwohl er nur für ein Drittel seiner Verluste vom Staat entschädigt wurde, ist er nicht verbittert.
«Ich kann trotz meiner Verluste mit ein paar Luchsen leben», meint Egger, der anders als viele seiner Kollegen dialogbereit ist und den Teilnehmern der Exkursion über seine Erfahrungen berichtet. «Luchse sollten nicht illegal erlegt, aber andererseits auch nicht wieder eingeführt werden. Wenn es zu viele gibt, muss man etwas tun. Sie müssen bejagt werden.»
Nicht nur die Bauern haben Bedenken. Eine Exkursionsteilnehmerin erklärt, dass sie nicht unbedingt gegen drastische Massnahmen ist, wenn die Luchse zu einem Problem werden.
«Die Kinder finden es toll, etwas über Luchse zu lernen», berichtet die Grundschullehrerin aus dem nahe gelegenen Urlaubsort Gstaad, die seit 30 Jahren Mitglied im WWF ist, «doch die Eltern, von denen viele wegen der Angriffe auf ihre Schafe gegen Luchse sind, sind weniger begeistert. Ich versuche im Unterricht alle Seiten des Problems zu behandeln, aber persönlich habe ich nichts gegen den Abschuss von Luchsen, wenn es zu viele gibt oder die Angriffe überhand nehmen.»
Die Ansichten über den Luchs gehen noch immer weit auseinander. Deshalb bemühen sich Organisationen wie der WWF um die Aufklärung und Einbeziehung der örtlichen Bevölkerung, vor allem in Bezug auf das Luchsmanagement.
«Die Rückkehr von Grossraubtieren in unsere dicht besiedelte Region stellt eine grosse Herausforderung dar», so Schönenberger. «Wenn wir eine Aussicht auf Erfolg haben wollen, müssen wir die Bevölkerung allgemein und besonders die Menschen, die in den Luchsgebieten leben, sensibilisieren und informieren.»
Eine Möglichkeit zur Reduzierung von Angriffen auf Nutztiere ist der Einsatz von Herdenschutzhunden, die vor langer Zeit mit den Luchsen und Wölfen aus den Alpen verschwunden sind. Um diese Tradition nach vielen Generationen in der Schweiz wieder zu beleben, bietet der WWF Beratung zur Wahl der richtigen Hunde für diese Aufgabe an. Pyrenäen-Berghunde und Maremmano-Abruzzesen sind zwei Rassen, die sich als besonders geeignet erwiesen haben. Andere Änderungen bei der Weidehaltung, wie zum Beispiel die Verwendung von Elektrozäunen, bieten zusätzlichen Schutz gegen Raubtiere.
Weitere Exkursionen in die Welt der Luchse sind ebenfalls Teil eines langfristigen Plans zur Aufklärung der Schweizer aus allen Bevölkerungsschichten über ihre Umwelt, die Alpen, und die vielfältigen Arten, die dort leben.
«Luchse sind auf Unterstützung angewiesen, um ihr einstiges Revier zurückzuerobern und unsere Toleranz zu gewinnen», erklärt Schönenberger. «Die Menschen müssen die Luchse wirklich wollen, damit sie hier überleben können.»
«Wenn die Luchse in den Alpen eine Zukunft haben sollen, brauchen wir Kooperation und Lösungen für die Koexistenz mit Grossraubtieren», fügt sie hinzu. «Letztendlich hängt die Naturvielfalt von der kulturellen Vielfalt ab.»
* Mark Schulman ist Managing Editor bei WWF International im Schweizer Gland.
ANMERKUNGEN:
• Die Alpen sind eine der grössten und höchsten Gebirgsketten der Welt. Sie erstrecken sich über ein Gebiet von 192'000 km2, von Österreich und Slowenien im Osten über Italien, die Schweiz, Liechtenstein und Deutschland bis nach Frankreich im Westen (Wikipedia). In den Alpen leben rund 13 Millionen Menschen in mehr als 6'000 Gemeinden.
• Nach Schätzungen gibt es europaweit rund 8'000 Luchse. Die Population in den Karpaten ist mit rund 2'900 Tieren (KORA, 2001) die dichteste in Europa.
• Der Eurasische Luchs (Lynx lynx) ist nach dem Braunbären und dem Wolf das drittgrösste Raubtier Europas. Ausgewachsene Tiere erreichen ein Gewicht von 15 bis 28 kg und eine Länge von 90 bis 110 cm. Die Männchen sind grösser als die Weibchen und Luchse aus den nördlichen und östlichen Verbreitungsgebieten sind in der Regel grösser als Tiere aus dem Süden und Westen. Neben dem Eurasischen Luchs gibt es drei weitere Luchsarten: den Iberischen Luchs (Lynx pardinus), der mit nur 100 wildlebenden Tieren fast ausgestorben ist, den Kanadischen Luchs (Lynx canadensis) und den in Nordamerika heimischen Rotluchs (Lynx rufus).